Sonntag, 24. November 2019

Autismus-Fachtagung Aachen 2019



Seit langer Zeit war ich mal wieder auf einem Autismus-Fachtag unterwegs. Diesmal ging es nach Aachen. Dort lud die gemeinnützige GMBH Autismus Aachen zum Thema "die jungen Wilden - Autismus und Pubertät" ein.

Vier Vorträge waren angesetzt. Im Vorfeld wollte ich mich Informieren, ob eine Begleitperson willkommen war und ob es für Begleitpersonen Vergünstigungen gibt. Leider fand ich, wie bei vielen Veranstaltungen, keine Informationen darüber. Aber nach Anfrage meiner Begleitperson bekamen wir dann für sie zumindest ein vergünstigtes Ticket, was ich in anbetracht dessen, dass auch ein Mittagessen angeboten wurde ok fand.
Ich habe schon oft Fachtagungen besucht, die sich mal mehr, mal weniger, auch auf autistische Besucher eingestellt hatten. Leider ist es häufig der Fall, dass gerade z.B. bei einer Essensausgabe nicht darauf geachtet wird, das man nicht in einer Masse anstehen kann, oder in einem riesigen Raum wegen der sensorischen Überlastung eher nicht speisen kann.
Hier gab es, was sehr angenehm war, zwei Essensäle. Der eine eher hektisch und laut, der andere hingegen etwas leiser und an das Buffet kam man auch besser heran und zwar ohne Gedrängel. Ich schätze die Anzahl der Besucher auf 200 bis 250 Menschen. Wie immer (was ich sehr bedaure) gab es eher wenige autistische Menschen auf dem Fachtag.

Los ging es dann mit einem Vortrag von Herrn Prof. Dr. Rödler mit dem Thema "Krise ist immer auch Bewegung - Autismus im Brennpunkt - Pubertät als krisenanfällige Zeit".


Der Vortrag war schlüssig, enthielt aber keine Neuigkeiten für mich. Er sprach darüber, dass die Pubertät eine krisenhafte Zeit wäre. Man konnte dem Vortrag gut folgen. Vielen Punkten konnte ich zustimmen, bei einigen blieb ich skeptisch. Eines muss ich jedoch anmerken, was mir unangenehm auffiel. Der Professor erläuterte, dass er in der Vergangenheit mit einer Autistin auf der Bühne gestanden hätte, die neben der Bühne einen schalldichten Raum hatte, damit sie im Falle einer Überlastung, durch Schläge auf die Wand oder den Oberschenkel und laute Geräusche ihren Stress reduzieren konnte.
Er sagte, ihr wäre das vor einem Publikum peinlich, deswegen bekam sie neben der Bühne diesen Raum. Was mich ungemein erschrocken hat war, dass er im Zuge seiner Erklärungen zum Stressabbau das Verhalten dieser Autistin auf äußerst irritierende Art nachgeäfft hat.
Ich halte mal fest: diese Autistin macht das im stillen Kämmerlein, weil es ihr peinlich ist dies vor anderen Menschen zu tun und der Professor breitet auf einer anderen Veranstaltung genau dieses Verhalten vor dem Publikum aus, indem er sie - man kann es nicht anders sagen - nachäfft und damit auf unzumutbare Weise bloßstellt und erniedrigt. Meiner Meinung nach hätte man das sensibler lösen können und MÜSSEN. Eine Umschreibung dessen hätte hier vollkommen ausgereicht, auch wenn diese Autistin bei dieser Veranstaltung nicht zugegen war. Bis auf diesen Fauxpas, erklärte er sehr gut und man konnte seinen Aussagen sehr gut folgen. Auch wenn ich nicht bei jeder These bei ihm war.

Der zweite Vortrag wurde von Frau Katharina Bayer, Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie gehalten. Auch hier wurde verständlich erklärt. Man kam gut mit und an manch einer Stelle hat sie mit Sicherheit dazu beigetragen, einigen Menschen im Publikum ihre Ängste zum Thema Psychopharmaka zu nehmen. Auch wenn ich hier eine sehr feststehende Meinung habe, respektiere ich, wenn es anderen Menschen anders ergeht.
Alles in allem gut und schlüssig erklärt, Wirkweisen und Zusammensetzungen erläutert, aber leider fehlte mir auch in diesem Vortrag ein wichtiger Zusatz und zwar der, das autistische Menschen mit unter paradox, bzw. konträr auf Medikamente reagieren und auch andere Nebenwirkungen bekommen können, die nicht in der Packungsbeilage aufgeführt sind. Es könnte allerdings sein, dass dieser Hinweis noch gebracht wurde, denn ich bin ca. 5 min vor Beendigung es Vortrags bereits in die Pause gegangen, um den herausströmenden Menschen zu entgehen.

Das Mittagessen wie eingangs schon erwähnt, war gut und ich habe sogar noch etwas abbekommen. Das ist nicht immer und überall der Fall, denn wenn alle Menschen sich anstellen, kann ich nicht in diesem Getümmel mitten drin sein und muss warten, bis alle anderen Menschen ihr Essen bekommen haben. Bei vielen Veranstaltungen ist es aber oft so, dass sobald das Getümmel vorbei ist und man in Ruhe zum Buffet gehen könnte, dieses auch schon leergeräumt ist. Deswegen habe ich mich hier gefreut, trotz des Wartens noch etwas bekommen zu haben und in dem zweiten, ruhigeren Saal essen zu können. Wenn ich Punkte für Inklusion vergeben müsste, hätten sie von mir 7 von 10 möglichen Punkten bekommen.

Von 13.15 - 14.45 Uhr ging es weiter mit dem Thema: "Sexualität und Partnerschaft" von Dr. Andreas Krombholz und Bodo Teschke von der StiftungVollmarstein. Ich war angenehm überrascht, da ich bei dem Vortrag das Gefühl hatte:  jawohl da hat jemand den Autismus an sich wirklich verstanden. Und das nicht nur fachlich. Hut ab, das war wirklich gut. Es wurde viel über übergriffiges Verhalten von autistischen Menschen auf Andere gesprochen und Beispiele gebracht, wie man dem Autisten erklären kann, dass sein Verhalten übergriffig ist und wie man Regeln dazu erarbeitet und Grenzen setzt. Leider fehlte mir in diesem Bereich ein extrem wichtiger Punkt. Bis zum Schluss hatte ich noch gehofft, dass die Vortragenden das Thema noch bearbeiten würden, doch leider kam da nichts, so dass ich mich gezwungen sah einen Einwand einzubringen. Die ganze Zeit wurde nur von übergriffigem Verhalten von Autisten auf nicht-Autisten gesprochen, jedoch nicht darüber, dass Autisten selbst noch viel öfter Opfer von übergriffigem Verhalten durch Neurotypische werden. Dies ist die andere Seite der selben Medaille und muss in diesem Zusammenhang auch besprochen werden. Die Vortragenden waren diesem Einwand gegenüber auch aufgeschlossen und meinten es wäre ein guter Einwand, das würde tatsächlich in ihrem Vortrag fehlen. Schade das es nicht länger erörtert wurde.

Zum guten Schluss gab es noch den Vortrag "O(h)n(e) L(e)ine - Medienkonsum, Gefahren Nutzen, Kontrollmöglichkeiten" von: Gregor von Overheidt
Hier ging es um Socialmedia-Netzwerke wie Facebook, Twitter und Co. Gleichzeitig ging es aber auch um Konsum und Suchtgefahren, besonders bei Spielen wie Egoshootern. Der Tenor war: man sollte diese Zeit begrenzen. Mein Einwand, das auch ein Spezialinteresse Computerspiel eventuell dabei helfen kann, einen Job zu bekommen wurde leider abgebügelt. Das wäre so selten, das Autisten in diesen Bereichen gut genug werden würden, da wäre ein Treffer im Lotto wohl wahrscheinlicher. Ich dachte, schade das dieser Mensch so wenig Ahnung vom Thema Spezialinteresse hat. Spezialinteressen sollte man immer auch als Chance begreifen und ich habe in den vergangenen zehn Jahren mehr als genug Beispiele gesehen, bei denen ein solches Spezialinteresse zum Erfolg geführt hat.

Mein Fazit:
Vieles war gut, aber bei jedem einzelnen Vortrag fehlten mir die wichtigsten Hinweise und wichtigsten Punkte. Es waren meiner Meinung nach (wie meistens) viel zu wenig Autisten im Publikum. Eine Autistin wurde nachgeäfft und somit der Lächerlichkeit preisgegeben (was ich mir auf jeder Bühne verbitte). Wie bei vielen anderen Fachtagungen fühlte ich mich als Autistin nicht wirklich willkommen und inkludiert sondern eher als Forschungsobjekt ÜBER das geredet wird anstatt mit mir. Bei Veranstaltungen die von Autisten selbst ausgerichtet werden fühlt es sich hingegen eher an wie ein Besuch bei der Familie. Bei uns gibt es immer ein wildes Durcheinander. Jeder spricht mit Jedem und dort hatte man das Gefühl, dass jeder für sich in seiner Gruppe blieb. Schade, denn so war auch in der Pause kaum ein Austausch möglich. Was ich noch schmerzlich vermisst habe, ist eine Einstellung getreu dem Motto: "Nicht über uns, sondern mit uns". Ich finde es gehört zu so einer Fachtagung einfach dazu, dass auch autistische Menschen auf der Bühne stehen und ihren Teil zur Informationsgewinnung beitragen. Nicht zuletzt sind Autisten immer auch Experten in eigener Sache.

Und nebenbei:
Im Anschluss trafen wir in Aachen am Bahnhof zufällig noch eine andere Autistin und wir unterhielten uns. Sie transportierte in wenigen Minuten das, was die Vortragenden auf dem ganzen Fachtag in Stunden versucht hatten zu transportieren. Vorträge gut, Möglichkeit zum Essen gut und trotzdem hat immer etwas gefehlt.


UPDATE:

Weil es gerade so schön zum Thema passt: Gestern, am 25. November ist ein Blogpost in Form eines Dialogs erschienen, der sich mit dem Thema paradoxer Wirkung von Medikamenten befasst.